Das Gedächtnis der Dinge (2014)
›Das Gedächtnis der Dinge‹ ist eine fast 256 Seiten umfassende Sammlung von Fotografien und Texten, an der fast 80 Menschen unterschiedlichen Alters und Berufes mitgearbeitet haben. Thomas Brandt hat sie gebeten, von Gegenständen zu erzählen, die sie in ihrer persönlichen Lebensumgebung verwahren. Viele haben in Form eigener Texte geantwortet, andere das Angebot angenommen, ihre Geschichten von ihm aufschreiben zu lassen.
Es geht um Dinge mit verborgenem Sinn. Sie dienen als ›Platzhalter‹ für Erinnerungen an Begegnungen, Ereignisse und Erlebnisse, die für den Verlauf eines Lebens wichtig waren oder es noch sind. Viele Geschichten verweisen auf zeitgeschichtliche Ereignisse, wieder andere auf Geschehnisse in der eigenen Biographie, einige Dinge waren Anlass für philosophische Erörterungen oder Auslöser für erfundene Erzählungen.
Die Essener Fotografin Hanne Brandt hat die meisten der ›umschriebenen‹ Gegenstände in einfühlsamer Weise ›portraitiert‹ - einige Aufnahme anderer Fotografen sind von Autoren zur Verfügung gestellt worden. Die Fotografien der Objekte zeigen ihr materielle Dasein, wie es für jeden auch uneingeweihten Betrachter wahrzunehmen ist, mit all den sinnlichen Qualitäten von Oberflächenstruktur und Farbigkeit. Die Sorgfalt, mit der die Dinge präsentiert werden, unterstreicht ihre Würde und die Ausdruckskraft ihrer Gestalt. Die korrespondierenden Geschichten in ihren unterschiedlichen Sprachformen dagegen erzählen vom Wesen der Dinge jenseits ihrer materiellen Existenz – sie schildern ihre Rolle im Leben der Menschen.
Folgende Autoren und Autoren sind mit Texten vertreten:
Heike Anacker, Margit Bassler, Steff F. Berger, Sabine Beth, Annelien van Binsbergen, Ada Blochwitz, Helmut Blochwitz, Christiane Brandt, Elisabeth Brandt, Thomas Brandt, Ilja Chakhov, Johanna Cüppers, Irmel Droese, Jörg Eberhard, Dorothea Faust, Klaus Fischer, Ingrid Flügger, Maria Frenzel, Johanna Hansen, Otto Hansen, Martin Heerich, Silke Helmerdig, Gabriele Holste, Birte Horn, Elisa Iven, Anita Janzen, Bernd Kersting-Bilk, Astrid Klerx, Ludmila Kloss, Anne Kolvenbach, Marcel Kolvenbach, Michael Kortländer, Jeremias Krakowiak, Norbert Kraus, Dieter Krüll, Anette Kruszynski, Elke Küppers, Rudolf Küppers, Petra Kuhles, Ute Langanky, Angelika Lange, Carla Lenz, Wolfgang Lenz, Johannes López Ayala, Jennifer López Ayala, Hans-Joachim Lukat, Kornelia Lukat, Thomas Mayer, Ruth Mbabazi, Julia Meer, Jörn Merkert, Jens Metzdorf, Fritz Meyer und Gabriele Meyer-Allenstein, Elisabeth Mühlen, Birgit Notholt-Heerich, Edith Oellers, Michalis Patentalis, Christoph Rehlinghaus, Paula Roesch, Claudia Sack, Elles Schaaf-Ndeye, Wilhelm Schepping, Susanne Scherer, Martina Schlagenhaufer, Jobst Schnibbe, Gerd Schnibbe, Hans-Jürgen Schultz-Coulon, Jürgen Seidel, Andreas Techler, Claudia Vaes, Walter Vogel, Tobias Wartenberg, Stefan und Julia und Eva Weinert, Karin Wieckhorst, Suse Wiegand und Eckehard Wienstroer.
PRESSESTIMMEN
„ „Das Gedächtnis der Dinge – eine Geschichtensammlung“ … voller schöner, nachdenklicher, berührender, belustigender Erzählungen ...“
Helga Bittner in NEUSS-GREVENBROICHER ZEITUNG, 2.4.2014
„Es geht ... nicht um Stehrummchen. Keinesfalls. Sondern um Dinge, die eng mit Erlebtem verknüpft und Teil der jeweiligen Biografie sind.“
Alexandra Wehrmann in COOLIBRI, April 2014
„Das Ergebnis ... ist ein Stück berührender Zeitgeschichte geworden. ... Entstanden ist eine spannende Reise durch die Befindlichkeit dieser Republik.
Pamela Broszat in der NEUE RUHR ZEITUNG am 25.6.2014
„Thomas Brandt hat für sein Buch Menschen über Gegenstände erzählen lassen. So sprachen sie bald über sich.“
Sabine Schmidt in RHEINISCHE POST, 16. Juli 2014
LESEBEISPIELE:
Die türkisfarbene Gießkanne
Johanna Cüppers
Ein Objekt aus meiner Kindheit besitze ich immer noch, dem eine besondere Erinnerung anhaftet. Es ist eine Spielzeuggießkanne aus leuchtend türkis-blauem Plastik in der übersteigerten Ausformung einer Ente.
Es war Sommer und wir verbrachten unsere Ferienzeit auf einer Nordseeinsel. In einer zeitlosen Zeit reihten sich die Tage aneinander. Wir Kinder waren frei und ungebunden am Strand zwischen den heranrollenden Wellen und den Dünen mit ihren spitzen Gräsern. Ich war ungefähr fünf oder sechs Jahre alt und ging den Strand entlang, um die Umgebung zu erkunden.
Weit weg vom fröhlichen Lachen und Rufen des Strandlebens sah ich ein verheißungsvolles Türkis. Es war eine halb im Sand vergrabene Gießkanne. Meine Familie war nicht mehr zu sehen. Um mich her gab es nur noch das geheimnisvolle und mächtige Aufschlagen der Brandung und den brausenden Wind in meinen Ohren, ein wilder, lauter Wind, der mich in meine innere Welt zurück drückte und das Leben gleichzeitig unendlich ausweitete.
Völlig entzückt verliebte ich mich in die Formen dieser Gießkanne, die eine Ente war, studierte das mit kleinen kugelartigen Dellen versehene Plastik. Ich fragte mich, ob ich das Türkis am besten für die Ente fand und wie es wäre, hätte sie eine andere Farbe. Mir erschien die Form sehr gut ausgearbeitet. Es gab eine kleine Locke oben auf dem Kopf, die Andeutung von Flügeln an der Seite und einen aufgestülpten Schnabel, aus dem das Gießwasser herausfließen konnte. Die Schwanzfedern wiederum wurden zum Griff. Ich fand die Idee sehr gut, eine Gießkanne als eine Ente zu formen. Ich stellte mir vor, wie schön es sein würde, in Zukunft den Sand mit dieser Enten-Kanne zu wässern. Es war ein großes Glück, dass ich sie gefunden hatte. Diese Gießkanne, so sah ich, war nicht nur funktionell gut geformt. Sie war in erster Linie schön. Sie würde das Spielen im Sand in seiner Glücksqualität steigern.
Ich lief mit ihr aus der kühlen und rauen Einsamkeit zurück in die Hitze der Strandkörbe und zeigte sie voll Freude meiner Mutter. In dem Moment fiel auf meine glückliche Stimmung ein Schatten. Denn meine Mutter fand es nicht in Ordnung, dass ich etwas, das einfach herumliegt, als meines betrachtete. Ich schämte mich sogleich sehr für mein Stehlen. Aber ich konnte diese Ente unmöglich zurückbringen! Ich hätte die Stelle niemals wiedergefunden. Ich sah ein, dass ich einem Kind etwas Schönes gestohlen hatte, das es jetzt vielleicht schon sehr vermisste. Liebend gerne hätte ich es ihm wiedergegeben. Aber wie sollte das gehen? Ich kannte das Kind ja nicht.
Der Zauber der Ente war dahin. Ich wurde sehr traurig. Alles wurde schwierig. Als ich die Gießkanne zuerst ergriffen hatte, schien das Glück für mich so intensiv zu werden, dass ich mich beschützt und vom Leben geliebt gefühlt hatte.
Jetzt aber bedeutete dieser strahlend schöne Gegenstand eine böse Schuld.
Ostereier-Pellkartoffeln 1946
Bernd Kersting-Bilk
Die Mutter hatte für die Heimfahrt einen Güterwagen gemietet. Der stand auf einem Bahnhof am westlichen Abhang des Harzgebirges, wurde mit anderen an eine qualmende Lokomotive gehängt, mal nach einer längeren, mal kürzeren Strecke wieder abgehängt, auf ein Abstellgleis rangiert, dann an die nächste Lok angekuppelt, eine direkte Verbindung zwischen dem Ort unserer Evakuierung und der Heimatstadt Aachen gab es auch früher nicht, nun waren zusätzlich Umwege nötig, weil Gleise zerbombt oder Brücken gesprengt waren, und Vorfahrt hatten natürlich die Züge der Sieger. Das Großdeutsche Reich war soeben untergegangen, doch die Reichsbahn funktionierte noch immer. Mutter hatte noch eine andere Familie für die Reise gewonnen, für die vierhundert Kilometer, die uns von Zuhause trennten, brauchte der Waggon viereinhalb Tage, in kluger Voraussicht hatte Mutter zwei Eimer voll Möhren organisiert, so hatten wir Kinder reichlich zu futtern.
Nicht weil das so weit zurückliegt, sondern weil ich zu jung war, kann ich mich an das Meiste nicht mehr erinnern. Ob schon während der Mai-Reise 1945 jener klagende oder auch wütend fordernde Satz meines fünf Jahre älteren Bruders mein Trommelfell traf? Im nächsten Jahr, daran erinnere ich mich gut, hab ich ihn mehr als nur einmal gehört: »Ich will ein Kotelett, ich will ein Kotelett haben!« Jener Sommer war heiß, Vater baute ein Notdach, weil unser Haus sich bei der Schlacht um Aachen einen Artillerietreffer eingefangen hatte, Bruder Heinz als der Älteste zog per Strick Baumaterial über eine Rolle in die vierte Etage hinauf, ein Kotelett gab’s dafür nicht, aber Mutter hatte ihm als Lohn eine Frikadelle versprochen, und die bekam er auch. Das Ding bestand jedoch nicht aus Hackfleisch, ja, nicht mal aus Möhren, sondern aus einer geraspelten Steckrübe, freilich gebraten in einem fetthaltigen Hustensaft, den unser Hausarzt Mutters Bratpfanne verschrieb. Heinz war nicht wirklich begeistert, ich hätte dazumal alles, egal welcher Machart, mit Freude verschlungen. Was Frikadellen oder Koteletts waren, wusste ich noch nicht oder konnte mich an solche Speisen nicht mehr erinnern. 1917/18 hatte man zum ersten Mal vom Steckrüben-Winter geredet, die Eroberungsträume von deutscher Vormacht von Antwerpen bis nach Odessa waren da längst schon zunichte. Im Zweiten Eroberungs-Weltkrieg darbten wir Kinder eigentlich nicht, denn wir aßen von dem mit, was polnischen Kindern, Kriegsgefangenen oder Arbeitssklaven zum Leben fehlte. Unsere Steckrüben-Winter begannen im Mai ’45, sie scherten sich wenig um die Jahreszeiten und dauerten ununterbrochen bis Ende ’47.
Die Äcker im Aachener Land lagen noch lange voll Minen, wir gehörten zur britischen Besatzungszone, wo keine GIs Schokolade verschenkten, auch die englischen Kinder hatten zu der Zeit zu wenig zu essen. Vor Ostern ’46 schnallte sich Vater einen leeren Rucksack um und verschwand für zwei Wochen. Als er zurückkam, hatte sich der Rucksack auf wundersame Weise mit Kartoffeln gefüllt, die Vater bei Verwandten an der Lahn eingefüllt und auf abenteuerlichen Wegen über die französische Besatzungs-Zonengrenze geschmuggelt hatte. An den Geschmack dieser köstlichen Früchte konnte ich mich zu der Zeit ebenfalls nicht mehr erinnern.
Ostern nahte, und endlich nähern wir uns auch dem Objekt, das mir damals – so silbern glänzend wie sonderbar! – zum ersten Mal vor die Augen trat. Der Frühstückstisch war österlich-bourgeois-prächtig gedeckt: Damasttischtuch, Leinenservietten im Ring, Messerbänkchen und sogar Omamas schnörklige Löffelchen, die sie von Städtereisen mitgebracht hatte und per Relief oder Email Bildchen von Dresden, Brüssel, Rom oder Prag zeigten. In blauweißen Schüsselchen Marmelade, natürlich nur die, die Mutter aus Steckrüben selber gemacht hatte. Überdies standen vor jedem Teller mir unbekannte, kleine Porzellan-Kelche mit Mützchen. Dazu muss noch gesagt werden, dass von alldem rein nichts mehr im Haus war, als Vater heil aus dem Krieg und wir, ohne Harz-Möhren, zurückgekommen waren. Nicht einmal Töpfe, Werktagsbestecke oder Wäsche waren zu finden gewesen. Alles war, wie es damals hieß, sichergestellt worden, wir sagten: sicher-gestehlt. Allerdings hatten die Eltern das Meiste per kriminalistischer Nachforschung in den Hinterhäusern der Hühnergasse ausfindig machen und mit List, Forschheit oder Überredungskunst wieder einsammeln können. Darunter auch ein Gerät, das sich mit Daumen und Zeigefinger auf- und zuklappen ließ wie eine Schere, allerdings fehlten die zum Schneiden nötigen Klingen. Stattdessen saßen innen unterm Gelenk auf den gebogenen Wangen kurze und teuflisch spitze metallene Dornen. Dieser Gegenstand also lag ’46 mit auf dem Ostertisch. Wozu der gut war, wussten wir Kleinen erst einmal nicht.
Aber dann hatte Vater das Ding mit theatralischer Geste in schweigender Andacht an seine Finger gesteckt, ließ es ein paar Mal auf- und zuklacken, griff mit der anderen Hand zum Kelch oder Becherchen vor sich, das hieß an den Zipfel des Mützchens, und forderte uns auf, dasselbe zu tun. »Jetzt zeig ich euch, wie man Eier isst.« Und danach: »Alle Mann Hut ab!« lüftete Vater das Mützchen, das ein Eierwärmer war, wie wir belehrt wurden. Zum Vorschein kam eine einzelne (einzige!) Pellkartoffel, deren Spitze Vater, dank des Gerätes, abknipste und kopfüber auf seinem Teller ablegte. Bruder Heinz war als Erster an der Reihe, wir Kleineren taten’s den beiden dann nach. Eier hatte uns der Hase zwar keine gebracht, aber die eine warme Kartoffel, welche uns als Oster-Festspeise aufgetischt ward und die wir, Häppchen für Häppchen, in uns hineinlöffelten, schmeckte – ich weiß nicht wie! – unglaublich wunderbar. Dazu erzählte Vater, das war einer seiner Spleens, in einem fort all so Geschichten aus der Geschichte, auch von französischen Königen und einem Dr. Guillot und wie dessen Guillotine funktioniert hatte. Dazu klapperte Vater der Anschaulichkeit wegen mit dem Kartoffelspitzen-Abschneide-Gerät klappzack in der Gegend umher.1947 gab es dann doch schon richtige Eier zu Ostern, und in den mehr als sechseinhalb Jahrzehnten meines ›Lebens als Eiervertilger‹ waren es unzählige, deren Schalen ich zerditscht, mit Messern durchtrennt oder mit Eierlöffel-Schlägen aufgebrochen habe. Als die beste Methode erscheint mir freilich noch immer die Art, die Vater uns lehrte, als es zu Ostern diese eine gekochte Kartoffel gegeben hat. Das dazugehörende Werkzeug ist inzwischen und bis heute in meinem Besitz. Längst hat das Ding durch seinen vielfachen späteren Gebrauch zwei seiner Zähne verloren. Hergestellt von der Firma WMF, trug es tatsächlich den eingetragenen Warennamen ›Eierköpfer Guillotine‹.
Zwar hatte ich damals schon den vagen Verdacht, dass Vater sehr spleenig sein konnte, aber die Geschichten, die er – von Frankreich, Revolution, ›Place de la Guillotine‹, heute: ›de la Concorde‹! – erzählt hatte, gingen mir runter wie Butter oder, zutreffender: wie diese wunderbare gekochte Kartoffel. Kurz drauf als Schulkind dachte ich gar, dass man statt Ludwig den Soundsoviel- ten doch besser Adolf & Co unter die Guillotine hätte führen müssen. Diese Idee überfi el mich heftig, als ich in Vorkriegsbüchern zum ersten Mal was über Ostpreußen las und Bilder von Elchen sah, und dabei kapierte ich plötzlich für mich, dass dieser Hitler samt seiner Bande Schuld daran waren, dass es wegen des Kriegs usw. hinterher nicht nur zu wenig zu essen, sondern nun auch keine Elche in Deutschland mehr gab. Die Pellkartoffel im Eierbecher, im Steckrüben-Frühling Ostern ’46, sowie der WMF-Eierköpfer haben wahrscheinlich auch dazu geführt, dass ich noch immer lieber Kartoffeln als Eier esse und – »Ça ira!« – über die Maßen Frankreich und seine Große Revolution liebe.
Flügel Dosen Öffner
Martina Schlagenhaufer
Es ist ein Gebrauchsgegenstand, mehr noch: es ist ein gebrauchter Gegenstand. Ein sehr gebrauchter Gegenstand. Ein eiserner Dosenöffner. Unzählige Male habe ich meine Mutter ihn gebrauchen sehen. Mühelos schnitt sie damit lebhaft gewellte Deckel aus Konservendosen. Wäre ich später geboren, hätten mich seine Flügel vielleicht an Micky-Maus-Ohren erinnert, als ich ihn zum ersten Mal bewusst sah, und ich hätte ihn seither mit einem Lächeln betrachten können. So kam er mir bloß wacklig und altmodisch vor. Ganz sicher hatte meine Mutter Besseres verdient. Irgendwann schenkte ich ihr einen modernen Dosenöffner, mit schlanken kunststoffbekleideten Schenkeln und einem handlichen breiten Drehgriff. Sie benutzte ihn mir zuliebe. Doch als er ziemlich bald kaputt war, holte sie ihren vertrauten Dosenöffner wieder aus der Schublade. Den eisernen.
An ein kleines Stück zweieinhalb Millimeter dickes Eisenblech, dessen Kontur vage an einen Fisch erinnert, sind drei bewegliche Teile genietet. So beweglich, dass ihr Hin- und Herschlackern ein Klimpern verursacht, ähnlich dem eines Bundes alter Schlüssel. Diese lockere Befestigung ist weniger eine Abnutzungserscheinung als ein Gebot der Bedienbarkeit. Vorn drauf der Drehgriff. Sein Eisen ist dünner als das des ›Fisches‹. Man erkennt, dass es ursprünglich ein zwei Zentimeter schmaler Streifen mit abgerundeten Seiten war, zur Mitte zunächst verjüngt, um dann als Kreis wieder die Ausgangsbreite zu erreichen. Seine runden Enden sind gewaltsam beflügelt und aufgerichtet worden, mit jener gegenläufig drehenden Bewegung, die auch das um ein Bonbon gewickelte Papier verschließt. Vermutlich der gleiche Arbeitsgang zwang den Mittelkreis verstärkend zur flachen Schale. Eine Niete hält diesen geflügelten Griff auf der Vorderseite des ›Fischkopfs‹ zusammen mit einem kleinen Zahnrad auf dessen Rückseite. Zum Schutz und zur Führung sind die ›Lippen des Fisches‹ zum Zahnrädchen hin geschürzt. Die ›Rückenflosse des Fisches‹ ist längs des Körpers ein Stück weit eingeschnitten und rechtwinklig nach hinten gebogen, um auf dem gebördelten Rand der Dose aufzuliegen, wenn der Öffner-›Fisch‹ kopfüber den Weißblechzylinder umkreist. Geschnitten wird mit einem schmalen, an der Rückseite des ›Fisches‹ beweglich montierten Eisenstreifen, dessen eines Ende mäßig spitz, aber scharf geschliffen ist, während das andere die ›Schwanzflosse‹ knapp einen Zentimeter überragt, um greifbar zu bleiben. Eine Kerbe in dieser ›Schwanzflosse‹ zusammen mit der abgeknickten ›Rückenflosse‹ erlauben der Schneide gerade einen Viertelkreis Bewegungsfreiheit.
Man setzt den Öffner oben so an die Dose, dass auf deren gebördelter Kante die verbogene ›Rückenflosse‹ zu liegen kommt, auf der waagerecht der lockere Schneidestreifen noch tatenlos ruht. Sobald man diesen Streifen mit entschlossenem Druck aufrichtet, gräbt sich die Schneide unweigerlich in das Dosenblech. Die Bresche ist geschlagen, die gebördelte Dosenkante ist zwischen Schneidestreifen und Öffner-›Fisch‹ eingeklemmt, und mit jedem Drehen der Flügel nagen die Zähnchen des kleinen Rades weiter die Außenseite der Bördelkante entlang. Bis das Ende eins wird mit dem Anfang, der Dosendeckel sich kurz aufbäumt und gleich darauf losgelöst auf dem Inhalt der Dose schwimmt. Die Arbeit des Öffners ist getan, aber erst mit einer kurzen Drehung des Flügelgriffs in Gegenrichtung gibt er den Dosenrand wieder frei.
Wenn jeder Handgriff im Gesamtablauf stimmt, man sich nicht in einzelne Bewegungen verliert, wird das vorsintflutliche Werkzeug zum willfährigen Instrument. Nicht erst in den geübten Händen meiner Mutter, bereits in denen meiner Großmutter. Ich habe die Geschichte dieser Großmutter, die auf der Flucht aus ihrer Offiziersmesse einen Pritschenwagen voll mit Konserven des eben noch verwursteten Schweins mitnahm, Wertsachen dagegen im Kantinenkeller einmauern ließ, so oft gehört, dass ich inzwischen argwöhne, sie aus einem Film zu kennen. Nicht einmal in der Hektik des Aufbruchs vergaß die patente Küchenchefin den zweckdienlichen Dosenöffner. Und sie war vorausschauend genug, dieses so wertvolle kleine Gerät nirgends auf dem vielfach gewundenen Weg von Dessau nach Düsseldorf zurückzulassen. In ihrem nach dem Krieg überschaubar gewordenen Haushalt weihte sie schließlich ihre erstgeborene Tochter in das Geheimnis seiner Bedienung ein. Als meine Großmutter mit dreiundfünfzig Jahren starb, rettete die junge Adeptin den Öffner vor der drohenden Entweihung durch die schon auf der Schwelle wartende Stiefmutter. Und konnte sich seiner treuen Dienste fortan gewiss sein. Nicht nur in ihrer eigenen Drei-Personen-Küche, sogar Jahre später in der gutbürgerlichen Küche ihrer Gastwirtschaft, wo sie rund hundertzwanzig Essen täglich zubereitete und zur bereitwilligen Konsumentin von noch mehr Konserven wurde. Doch selbst langgediente Werkzeuge entwickeln ihre Tücken. Als Gegenleistung für ihre Dienstbarkeit fordern sie ungeteilte Zuwendung. Und rächen jeden Moment der Unachtsamkeit. Meine Mutter erfuhr das an einer Zweikilodose Wachsbohnen. In der Hektik der Mittagstischvorbereitungen schnitt sie diesen einen Dosendeckel nicht sauber ab, er verklemmte. Ungeduldig drückte sie an dem verkanteten Deckel herum, das überspannte Blech war ihr hochschnellend zu Willen und durchtrennte scharfgewellt das Mittelgelenk des kleinen Fingers ihrer linken Hand sauber und so vollständig, dass der obere Teil des Fingers nur noch von der Haut gehalten wurde. In annähernd zwei Stunden wurde er fein säuberlich wieder angenäht, aber die Mechanik der gelösten Verbindung sollte künftig versagen. Meine Mutter wunderte sich kurz, dass ihr, wenn sie wie gewohnt mit beiden Händen sechs Eier zur Pfanne tragen wollte, das sechste Ei immer auf den Boden fiel, und benutzte fortan eine Schüssel. Wo meine Mutter bis auf dieses eine Mal stets erfolgreich war, scheitere ich seit je mit ernüchternder Beständigkeit. Je verbissener ich es versuche, desto beharrlicher sträubt sich das nichtsnutzige Alteisen. Kaum dass ich eine kümmerliche Perforierung des verdammten Dosendeckels zustande bringe. Nie habe ich die fragile Balance zwischen Druck, Neigung und Drehgeschwindigkeit herstellen, nie den Gebrauch zum Automatismus perfektionieren können.
Nicht für meine Befähigung wird mir dieser eiserne Dosenöffner verliehen werden, er wird das greifbare Zeichen einer Niederlage sein, bin ich doch die einzige Frau der Familie, der er nicht zur Hand geht. Krieg ich ihn je in den Griff, dann mit Worten. Ich kann nicht sagen, ob meine Großmutter beim Öffnen einer Dose zuweilen an Vergangenes dachte, ebensowenig wie ich weiß, ob meine Mutter sich dieses Dosenöffners in dem Bewusstsein bediente, dass meine Großmutter ihn über Jahre fast täglich in Händen gehalten haben muss. Möglich wäre es. Hunger, Angst und Verlorenheit, die sie zusammen ausstanden, haben das Verhältnis von Mutter und Tochter zu einem sehr engen gemacht. Meine Mutter muss diesen Dosenöffner benutzt haben, solange sie kochte, es fand sich gar kein anderer in ihrer Küche. Als sie das Kochen langsam zu vergessen begann, entglitt ihr auch der Gebrauch ihres Dosenöffners. Wenn ich ihn heute in ihre kaum noch etwas festhaltenden Hände lege, dann tippt sie mit dem Zeigefi nger auf die Flügel: »Eins – zwei – eins – zwei – eins … « Und manchmal lächelt sie dabei.
Körperkult und Käseigel
Carla Lenz,
aufgeschrieben von Thomas Brandt
Es war die Zeit der Käseigel, der pfiffig nach quietschbunten Fotoanleitungen drapierten Häppchen, der Partyabende mit ›Hammond-Orgel‹-Fröhlichkeit. So sah Wohlstand aus, das war sein Geschmack. Ferngerückt waren die Schmach, die Schmerzen und Entbehrungen des verlorenen Krieges, verblasst die Orientierungslosigkeit der kargen Nachkriegsjahre. Der Motor der Wirtschaft brummte unüberhörbar. Man hatte Geld in den Fingern und durfte sich wünschen, was man wollte. Verzicht war gestern. Es schien, alles Erhoffte könne in Erfüllung gehen, wenn nicht jetzt, dann in naher Zukunft. Wenn man sich nur nach der Decke streckte, fleißig und sittsam war.
Das Wohlergehen erreichte bald alle Teile der Gesellschaft. Auch solche, die wenig kulturelle Erfahrungen hatten, wie man das Leben jenseits des alltäglich Notwendigen gestalten konnte. Aber auch die, deren Kunstsinn wenig ausgebildet war, wollten Schönheit in ihr Zuhause einkehren lassen, wollten sich eine fein gewandete, gepflegte Mutter und Hausfrau leisten, die das Heim mit geübter Hand und erlesenem Geschmack verschönerte.
Eigentlich hätte mein Vater wohl gerne studieren wollen. Doch als er aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, schien dies fast unmöglich. Es war keine Zeit für Ideale, für persönliche Wünsche. Nur wer pragmatisch entschied, konnte wieder Fuß fassen. Vater aber hatte Glück im Unglück. Durch Beziehungen aus der Internierungszeit erhielt er die Chance, als Prokurist einer Firma aufzusteigen, die Büromaschinen aus Schweden verkaufte. Das Geschäft lief gut, schließlich wurden neue Maschinen fürs Rechnen und Schreiben in Hülle und Fülle für das angehende Wirtschaftswunderland gebraucht.
Als Prokurist oblag es ihm, die Verkaufsleiter des Unternehmens aus den unterschiedlichen Bundesländern zu betreuen. Regelmäßig traf man sich zum Erfahrungsaustausch und zu strategischen Besprechungen. Diese konnten auch im privaten Rahmen stattfinden, also auch bei uns. Gut erinnere ich mich an einen Abend, an dem wir Gastgeber waren. Der Dame des Hauses, meiner Mutter, wurde von den Mitarbeitern ein Gastgeschenk überreicht, das es in sich hatte. Sie war sprachlos, behielt aber die Fassung. Wer sie kannte, konnte leicht durchschauen, wie sie große, ihr fremde und künstliche Gesten der freudigen Überraschung bemühte, wie sie überschwänglich davon sprach, ihr Lebtag noch nicht so etwas Schönes gesehen zu haben.
Das uns alle so irritierende Geschenk war etwas Besonderes, das musste man dem Schenkenden lassen. Blumen hätten auch gereicht, aber man wollte schließlich Eindruck hinterlassen, bleibenden Eindruck – Blumen verwelken so schnell! Von allen Anwesenden war derjenige Mitarbeiter, der das Geschenk hatte übergeben dürfen, am meisten von seiner Wahl als Nachweis künstlerischer Kompetenz begeistert und von ihrer Wirkung überzeugt. Wir dagegen unisono entsetzt. Diese nackte, grazil gymnastisch tänzelnde junge Frau mit ihren zwei großen goldenen Kugeln passte aber auch gar nicht in unser Leben, nicht zu den Möbeln und zum Stil der übrigen Einrichtung. Das ganze Bild kam uns so überlebt vor, so gestrig, an einem unerotischen Körperkult orientiert, wie er seit dem Dritten Reich diskreditiert war. Dies alles aber schien dem Schenkenden völlig zu entgehen oder ihn nicht die Bohne zu interessieren. Schließlich war es Kunst, die er der Dame des Hauses verehrte, ›echt Hutschenreuther‹, etwas Gediegenes und Kultiviertes allemal.
Besonders gut ist mir die Figur im Gedächtnis geblieben, weil sie zu einer Äußerung Anlass gab, die mich zutiefst irritierte und empörte. Der Schenkende nämlich hatte sich in seinem Hochgefühl neben mich gesetzt, tätschelte mir wohlwollend den Oberschenkel und ließ sich zu der Bemerkung hinreißen: »Und aus Dir kann ich auch noch eine Dame machen!« Was sollte das, bitteschön, heißen? Wollte ich überhaupt eine Dame werden, wenn damit so etwas gemeint war wie die tänzelnde Nackte mit den goldenen Kugeln? Und was waren das für Männer, die sich ausersehen glaubten, aus Mädchen Damen machen zu müssen? Erschöpfte sich anerkannte weibliche Existenz denn hauptsächlich darin, nett auszuschauen? Hieß es etwa, dass ich so, wie ich war, nichts galt?
Nach dieser denkwürdigen Einladung rettete meine Mutter sich und uns, indem sie die sogenannte Kugeltänzerin in einen Schrank verbannte. Schellte es in der Folgezeit und konnte man ahnen, es könne einer der Mitarbeiter des Vaters unerwartet vor der Tür stehen, dann sprang sie wie elektrisiert auf und rannte zum besagten Schrank, um die Figur herauszuholen und sichtbar auf irgendeinem Möbel zu drapieren. So wurde die kleine Tänzerin doch über die Jahre zu einem festen Bestandteil unseres